"Die alte GOÄ hat mit der heutigen Medizin nicht mehr viel gemeinsam"

Prof. Dr. Thomas Ratajczak, Fachanwalt für Medizinrecht, erläutert im Interview, warum eine Neufassung der GOÄ notwendig ist und welche medizinrechtlichen Fragen die Digitalisierung des Gesundheitswesens mit sich bringt.


Prof. Dr. Thomas Ratajczak ist Fachanwalt für Medizinrecht und Sozialrecht. Als Justiziar des BDIZ EDI (Bundesverband der implantologisch tätigen Zahnärzte in Europa e.V.) und Herausgeber u.a. des Abrechnungshandbuchs Implantologie ist er ein gefragter Experte für alle Fragen rund um die Gebührenordnung für (Zahn-)Ärzte. Mit 13 Fachanwälten an bundesweit 8 Standorten berät und vertritt die Kanzlei Ratajczak & Partner Leistungserbringer im Gesundheitswesen in allen medizinrechtlichen Belangen.

 

Herr Prof. Dr. Ratajczak, wie bewerten Sie den Entwurf der GOÄneu? Welche Vor- und Nachteile bringt sie aus Ihrer Sicht den Ärzten?
Das ist eine schwer zu beantwortende Frage, weil offiziell die GOÄneu noch nicht veröffentlicht ist und die inoffiziell kursierenden Texte damit auf Validität nicht abgeglichen werden können. Die GOÄneu wird sich durch eine Vervielfachung der Gebührenziffern und eine andere Systematik gegenüber der alten GOÄ unterscheiden. Vorteile wird sie schon deshalb bringen, weil die alte GOÄ mit der heutigen Medizin nicht mehr viel gemeinsam hat und viele Leistungen nur noch über Analogien in das Strickmuster des bisherigen Gebührenkatalogs gezwungen werden können. So gesehen ist jede Neufassung des Gebührenverzeichnisses zu begrüßen.

Wird die Ärzteschaft insgesamt finanziell profitieren?  
Die Frage, was die Ärzteschaft davon real haben wird, ist derzeit nicht seriös zu beantworten. Ich erwarte nicht, dass es tatsächlich auch nur annäherungsweise zu einem Inflationsausgleich kommen wird. Das ist schon bei der GOZ 2012 nicht gelungen. Nur den Tierärzten wird regelmäßig zugestanden, dass die Gebühren an die „wirtschaftlichen Verhältnisse eines tierärztlichen Praxisbetriebes“ angepasst werden, so aktuell wieder zum 01.10.2022.
Wesentlich wird sein, wie der Allgemeine Teil der GOÄneu schlussendlich ausfallen wird. Anstelle der bisherigen Steigerungssätze soll es zwar im Gebührenverzeichnis zahllose Zuschlagsziffern, im Allgemeinen Teil aber nur die Steigerung von 1 auf 2 geben, und das auch nur unter Einschränkungen. Es gibt offenbar Verhandlungen über die Budgetierung der Steigerungsraten, was auf eine Annäherung der GOÄ an die EBM-Systematik hinausliefe. Das wären keine guten Aussichten.

Sehen Sie Argumente gegen die Einführung der GOÄneu und für den Erhalt der alten GOÄ?
Sollte die GOÄneu nur eine Differenzierung der Gebührenziffern, aber keine substanzielle Anhebung der Honorare bringen, dann könnte es sein, dass den Ärzten Steine statt Brot gegeben werden.

Die Bundesregierung wehrt sich offensichtlich gegen eine zeitnahe Einführung der GOÄneu. Warum?
Es geht immer um dieselbe leidige Thematik: Die Beihilfe. Für den stationären Bereich werden Unsummen zur Verfügung gestellt, aber nicht für die privatärztliche Vergütung, weder stationär noch ambulant, weil sich das über die Beihilfe zu Lasten des Bundes- und der Länderhaushalte auswirken würde. Die Situation ist absurd geworden: Bundesärztekammer und PKV-Verband einigen sich auf eine Vergütungsstruktur und Vergütungshöhe. Das Bundesgesundheitsministerium anerkennt die Notwendigkeit, die seit 1982 in wesentlichen Teilen des Gebührenverzeichnisses unveränderte GOÄ anzupassen und sieht auch keine Probleme darin, dass den Tierärzten die Anpassung der Gebührensätze an wirtschaftlichen Verhältnisse zugestanden wird, blockiert dies aber bei den Ärzten und Zahnärzten.

Ihre Einschätzung: Wann kommt die neue GOÄ?
Ich habe dazu keine Einschätzung. Vor Jahren machte ich schon mal den Vorschlag, eine neue Gebührenordnung als Vertragsgebührenordnung mit dem PKV-Verband zu vereinbaren und die Beihilfepatienten gegebenenfalls nach der alten GOÄ abzurechnen, gegebenenfalls eben auch mit dem Leistungsumfang der alten GOÄ. Wenn der Staat als Gebührengeber vergisst, dass er als Staat nicht nur Rechtstreue einfordern darf, sondern sich auch selbst rechtstreu zu verhalten hat, sollte man vielleicht diesen Gedanken wieder aufgreifen.

Zum Thema ärztliche Privatabrechnung insgesamt: Hat sich hier nach Ihrer Einschätzung in rechtlicher Hinsicht in den vergangenen Jahren viel bewegt?
Es hat sich insofern etwas bewegt, als die Streitigkeiten zum Zielleistungsprinzip weniger werden. Aber zugleich wird von vielen Gerichten eine strikte Auslegung der Gebührenordnung verlangt, was bei der GOÄ angesichts der Diskrepanz zwischen den in der GOÄ abgebildeten und den tatsächlich heutzutage erbrachten Leistungen schon eine gewisse unfreiwillige Komik bedeutet. Besonders zu schaffen machen die ausufernden Anforderungen mancher Verwaltungsgerichte an die Begründung der Steigerungsfaktoren.

Welche Urteile zur ärztlichen Privatabrechnung waren aus Ihrer Sicht in der jüngeren Vergangenheit besonders bemerkenswert?
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 14.01.2021 – III ZR 353/20 – zum Zielleistungsprinzip beim Einsatz des Femtosekundenlasers bei einer Katarakt-Operation. Diese Entscheidung wird den Kosten des Systems und dem Nutzen für den Patienten nicht gerecht. Positiv dagegen zum selben Thema Landgericht Düsseldorf, 24.02.2022 – 3 S 11/18 –.
Die Entscheidung des Bayerischen Obersten Landgerichts vom 18.01.2022 – 1 ZRR 40/10 – zur Abrechenbarkeit von MRT-Leistungen durch Orthopäden. Bin gespannt, wie das der Bundesgerichtshof sehen wird.
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 22.09.2022 – III ZR 241/21 – zur Mehrfachabrechenbarkeit der Nr. 5377 GOÄ. Die Argumentation des Bundesgerichtshofs ist gut nachvollziehbar.

Welche Themen werden Ihrer Meinung nach im Medizinrecht in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen oder besonders große Aufmerksamkeit erfahren?
Die sogenannte sektorenübergreifende Versorgung und die adäquate Abbildung der Vergütungsstrukturen ambulant - stationär. Telemedizinische Fragestellungen, insbesondere Haftungsfragen der Telemedizin, Haftungsfragen aus Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) sowie Fragen der Substitution und der damit verbundenen Verantwortungsabgrenzung zwischen ärztlichen und nichtärztlichen Entscheidern.

Welche großen ungeklärten medizinrechtlichen Fragen sehen Sie hinsichtlich der Digitalisierung des Gesundheitswesens?
Von der Digitalisierung erhoffen sich viele große Einsparmöglichkeiten und eine Beschleunigung und Effizienzsteigerung bei der Versorgung der Patienten. Worüber kaum gesprochen wird, sind die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit die Ärzte schneller behandeln können: Die digital zur Verfügung gestellten Daten müssen vollständig und valide sein. Das geht nicht ohne in Deutschland derzeit noch kaum vorstellbare, anderswo völlig übliche Einschränkungen des Gesundheitsdatenschutzes. Die elektronische Patientenakte erlaubt erst dann eine raschere Zustandsbeurteilung und Diagnostik, wenn die darin enthaltenen Daten keine Lücken aufweisen. Solange das nicht gesichert ist, kommt die Behandlerseite um die zeitraubenden Bemühungen für Anamnese und Diagnostik, insbesondere auch bildgebende Diagnostik, nicht herum.

Was sollte sich in dieser Hinsicht im deutschen Gesundheitswesen ändern?
Wir leisten uns als Land in Sachen Gesundheitsdatenschutz einen unverantwortlichen Eiertanz. Dass es in Sachen COVID-19 rasch Impfstoffe gab, verdanken wir vor allem Israel und den USA, die in diesen Fragen pragmatisch und nicht dogmatisch denken. Die Erforschung vieler Krankheiten und der Wirkung von Behandlungen setzt den Zugriff auf große Mengen an Gesundheitsdaten voraus, die an einem einzelnen Klinikum nicht vorhanden sein können. Bei orphan diseases und orphan drugs müsste das sogar staatenübergreifend geschehen können. Mir will nicht einleuchten, dass in sozialen Medien und durch Google-Anfragen Gesundheitsprobleme offenbart werden, aber ausgerechnet beim Arzt oder im Krankenhaus es dem einzelnen überlassen werden soll, was er angeben will. Dass das für seine Gesundung nicht vorteilhaft ist, ist bekannt. Sollte keine Aussicht bestehen, Gesundheitsdaten in den Systemen des Gesundheitswesens zugriffsicher schützen zu können, dann wäre Digitalisierung reine Geldverschwendung.


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