Interview: „Im Praxisalltag ist die ePA bisher so gut wie gar nicht angekommen.“

Christine Neumann-Grutzeck, Präsidentin des Berufsverbandes Deutscher Internistinnen und Internisten (BDI), erläutert im Interview, warum die elektronische Patientenakte kaum Akzeptanz findet und welche Erwartungen sie an die neue Bundesregierung hat.

 

Frau Neumann-Grutzeck, wo stehen wir in Deutschland insgesamt mit Blick auf die Digitalisierung im Gesundheitswesen?
Der Expertenrat der Bundesregierung zu COVID-19 hat erst kürzlich eine Stellungnahme zum Stand der Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens herausgegeben und festgestellt, dass wir uns auf einem „gehobenen Brieftaubenniveau“ (Prof. Christian Karagiannidis) befinden. Ich halte diese Beschreibung für Teile des Gesundheitswesens für zutreffend. Wir haben großen Nachholbedarf.  

Welche Chancen und Potenziale sehen Sie in der Digitalisierung im Gesundheitswesen?  
Das deutsche Gesundheitswesen ist historisch von einer strikten Trennung der unterschiedlichen Versorgungsbereiche geprägt. Das ist nicht nur für die Patientinnen und Patienten ein Ärgernis, sondern erschwert auch die Kommunikation und den Austausch von Informationen für Ärztinnen und Ärzte. Mit guten digitalen Lösungen sehe ich ein großes Potenzial, die Sektorengrenzen zu überwinden und sowohl die Versorgung als auch den Arbeitsalltag von Ärzten, Apothekern und anderen Gesundheitsberufen deutlich zu erleichtern. Dafür benötigen wir aber Anwendungen, die auch auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten sind und nicht an uns vorbei entwickelt wurden.

Seit dem 1. Januar 2021 müssen die Krankenkassen ihren Versicherten die elektronische Patientenakte anbieten. Welche Chancen und Herausforderungen bringt die ePA für Patienten und für Ärzte?
Bei der elektronischen Patientenakte ist die Ärzteschaft – soweit ich das vernehmen kann – zwiegespalten. Die Patientendaten zu digitalisieren und sektorenübergreifend zugänglich zu machen, ist definitiv richtig und wichtig. Die ePA ist eine patientengeführte Akte, d.h. der Patient bestimmt darüber, welche Daten dort abgelegt werden und welche Behandler darauf Zugriff erhalten. Die Entscheidung darüber, was wichtig ist, erfordert aus meiner Sicht eine hohe Gesundheitskompetenz. Deshalb ist sie aus ärztlicher Sicht keine ideale Lösung. Wir haben von Anfang an eine Akte gefordert, die den Bedürfnissen der behandelnden Ärztinnen und Ärzten gerecht wird. Das beinhaltet zum Beispiel, dass die Notfall- und Behandlungsdaten strukturiert hinterlegt sind. Das bietet die ePA aktuell (noch) nicht.

Wird die ePA alle Funktionen einer „analogen“ Patientenakte abdecken? 
Wir müssen hier sehr deutlich unterscheiden: Die ePA ersetzt in ihrer aktuellen Form nicht die arzteigene Dokumentation von Patientendaten, also die Patientenakte, die jeder Arzt und jede Ärztin führt. Die Dokumentation im Primärsystem – egal ob KIS oder PVS – bleibt bestehen. Welche Daten aus der Primärdokumentation dann in der ePA landen, entscheidet der Patient. Im schlimmsten Fall ist die ePA eine wilde Ansammlung von unstrukturierten Daten und damit das digitale Pendant zu einem ungeordneten Aktenordner, den der Patient mitbringt. Das wäre aus ärztlicher Sicht wenig hilfreich. Digitalisierung ist nur dann eine sinnvolle Verbesserung, wenn Sie Prozesse erleichtert.

Wie ist der aktuelle Stand bei der ePA? Was funktioniert, was nicht?
Die Krankenkassen müssen seit Anfang letzten Jahres ihren Versicherten eine ePA anbieten. Niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten sind seit dem 1.7.2021 dazu verpflichtet, die erforderliche Ausstattung für den Zugriff auf die ePA in ihren Praxen vorzuhalten. In diesem Jahr sollte die ePA 2.0 an den Start gehen und u.a. die Nutzung auch für die Krankenhäuser verpflichtend sein. Trotz der gesetzlichen Vorgaben ist die ePA im Praxisalltag bisher so gut wie gar nicht angekommen.

Wo sehen Sie Entwicklungspotenzial?
Eine arztgeführte Akte innerhalb der ePA wäre eine deutliche Verbesserung. Im Praxis- und Klinikalltag besteht kaum Zeit, riesige Datensätze zu durchforsten. Das heißt wir brauchen einen übersichtlichen, strukturierten Bereich innerhalb der ePA, der uns diese Informationen bietet: Notfalldaten, Medikationsplan, relevante Diagnosen und Befunde usw. Auch die geplante Einführung eines digitalen Impfpasses ist sinnvoll und hätte uns – gerade in der Pandemie – natürlich das Leben erleichtert.

Sind die Patienten ausreichend über die Vorteile der elektronischen Patientenakte informiert? Wie können die Ärztinnen und Ärzte dazu beitragen, dass die ePA mehr Akzeptanz findet?
Die Versicherten wurden von Seiten der Krankenkassen bisher kaum über die ePA informiert. Die Kassen waren sicherlich auch zurückhaltend, weil es noch keinen konkreten Anwendungsfall gab. Sobald das System funktioniert, erwarte ich, dass die Krankenkassen ihre Informationskampagne deutlich ausbauen. Die Aufklärung der Versicherten ist die Aufgabe der Kassen. In den Praxen können wir das nicht leisten. Wir beraten unsere Patientinnen und Patienten dahingehend, welche Behandlungsdaten sinnvollerweise in die ePA überführt werden sollten. Die Akzeptanz für die ePA wird automatisch steigen, sobald Patienten und Ärzte einen Mehrwehrt erkennen können.

Wie schätzen Sie grundsätzlich die Akzeptanz der ePA bei der Ärzteschaft ein?
Die aktuelle Ausgestaltung der ePA ist aus ärztlicher Sicht nicht optimal. Das führt zu einer eher geringen Akzeptanz.

Was entgegnen Sie Medizinern, die digitalen Neuerungen wie der ePA skeptisch gegenüberstehen?
Erstmal habe ich für viele Kolleginnen und Kollegen Verständnis. Es kann nicht sein, dass die Ärzteschaft Anwendungen aufgezwungen bekommt, die noch nicht marktreif sind. Das ist einfach inakzeptabel und behindert die digitale Transformation mehr, als es sie fördert. Andererseits ist es auch unausweichlich, dass wir digitaler werden. Der Anspruch an uns wird mit einer neuen Patientengeneration noch einmal deutlich zunehmen. Und wie gesagt: Eine gut gemachte Digitalisierung birgt großes Potential, die Versorgung zu verbessern. Das muss das Ziel sein.

Was sollte die neue Bundesregierung Ihrer Ansicht nach anders machen als die alte?
Grundsätzlich erhoffen wir uns von der neuen Bundesregierung, dass sie den Ärztinnen und Ärzten mehr Gehör schenkt und in die Entwicklung und Einführung neuer digitaler Anwendungen besser einbindet. Das Akzeptanzproblem rührt ja nicht von ungefähr, sondern ist das Ergebnis schlecht gemachter Anwendungen, die mehr Arbeit machen, als einen echten Mehrwert zu bieten. Deshalb muss es eine klare und schonungslose Bestandsanalyse geben. Danach muss kooperativ und lösungsorientiert eine neue, tragfähige und realistische Digitalisierungsstrategie erarbeitet werden. In Bezug auf die ePA hat die Ampel im Koalitionsvertrag bereits ein wichtiges Vorhaben angekündigt: Statt des bisherigen Opt-in-Verfahrens soll auf ein Opt-out-Verfahren umgestellt werden. Jeder Versicherte erhält automatisch eine ePA, es sei denn sie oder er widerspricht. Das kann die flächendeckende Einführung beschleunigen.

Ihre Wunschvorstellung: Wie sieht das Gesundheitswesen in 15 Jahren aus? 
Da könnte man jetzt natürlich zum Rundumschlag ansetzen. Das würde aber den Rahmen sprengen. In Bezug auf die Digitalisierung hoffe ich natürlich, dass digitale Anwendungen wie ePA, E-Rezept und eAU sowohl die Kommunikation zwischen Arzt und Patient als auch zwischen den Gesundheitsberufen und Sektoren deutlich verbessern. Ich sehe außerdem große Entwicklungschancen im Bereich Künstliche Intelligenz bei der Unterstützung von Diagnostik und Therapie. Gleichzeitig muss das persönliche Arzt-Patienten-Verhältnis der zentrale Bestandteil bleiben. Digitalisierung kann Vieles, aber nicht alles.


Christine Neumann-Grutzeck ist seit September 2020 Präsidentin des Berufsverbandes Deutscher Internistinnen und Internisten e.V. (BDI). Der BDI ist mit rund 21.000 Mitgliedern Europas größter Internistenverband und vertritt die sozial- und berufspolitischen Interessen der Internistinnen und Internisten aller Versorgungsbereiche – d. h. in Kliniken sowie haus- und fachärztlichen Praxen – gegenüber Bund, Ländern, Versicherungsträgern und den Organisationen der ärztlichen Selbstverwaltung.

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