Interview: „Das Potential ist groß, es liegt an uns allen es auch zu heben."

Was versteht man eigentlich unter "Digitaler Medizin" und wie wirkt sich die Digitalisierung auf unser Gesundheitswesen aus? Teil 1 des Interviews mit Dr. med. Filippo Martino, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Digitale Medizin (DGDM).

Herr Dr. Martino, die „Digitalisierung“ ist in aller Munde, doch der Begriff wird teilweise sehr unterschiedlich definiert und verstanden. Können Sie konkrete Beispiele nennen, was unter „Digitaler Medizin“ zu verstehen ist?
Die Digitale Medizin ist ein sehr breites Feld, das eher als Querschnittsfach unterschiedlicher Fachrichtungen, aber auch medizinischer Professionen verstanden werden sollte. Digitale Medizin widmet sich der digital unterstützten Versorgung von Patientinnen und Patienten. Hierbei können verschiedene Technologien und Konzepte zum Einsatz kommen, die von der Verwendung von Virtual Reality bis hin zu künstlicher Intelligenz reichen. Konkrete Anwendungen sind beispielsweise die Videosprechstunde aus dem Bereich der Telemedizin oder digital abgebildete Versorgungskonzepte in Form von digitalen Gesundheitsanwendungen. 

Welche Chancen und Potenziale sehen Sie in der Digitalisierung im Gesundheitswesen? 
Wir stehen vor einer Digitalisierungswelle. Was in der Industrie schon längst in Gang gesetzt worden ist, wird auch die Patientenversorgung und unser Gesundheitswesen in den kommenden Jahren nachhaltig formen und verändern. Wenn dies unter Einbezug der medizinischen Expertise geschieht, indem sich z.B. Ärztinnen und Ärzte, Psychologinnen und Psychologen, Pflegekräfte und andere nichtärztliche Fachberufe in den Diskurs einbringen, haben wir eine große Chance, die Patientenversorgung zu verbessern. Die Digitalisierung ermöglicht es konkret, Prozesse im Gesundheitswesen auf allen Seiten neu zu überdenken und mit den neuen Optionen aktiv zu gestalten. Dies fängt bei der Reduktion des Dokumentationsaufwands für medizinisches Personal an und reicht bis zur Senkung von Hürden beim Zugang zu medizinischer Versorgung für die Patientinnen und Patienten. Das Potential ist groß, es liegt an uns allen es auch zu heben.

Die aktuelle Corona-Pandemie hat der Digitalisierung in vielen Branchen einen starken Push gegeben. Sehen Sie diesen Booster für digitale Lösungen auch im Gesundheitswesen? Und falls ja: Haben Sie ein konkretes Beispiel hierfür?
Die Corona-Pandemie hat uns auch im Gesundheitswesen aufgezeigt, was gut oder auch nicht so gut funktioniert. Dies hat dazu geführt, dass sich das Gesundheitssystem mit digitalen, insbesondere „kontaktlosen“ Möglichkeiten der Versorgung mehr auseinandergesetzt hat. Ganz konkret äußerte sich dies beispielsweise in der Telemedizin. Durch die vermehrte Anwendung und Nutzung der Videosprechstunde erfährt diese nun eine größere Akzeptanz sowohl in der Fachwelt als auch bei den Patientinnen und Patienten und hat somit ein Stück weit den Weg für weitere Innovationen gebahnt. 

Was würden Sie Medizinern entgegnen, die Innovationen und digitalen Technologien skeptisch gegenüberstehen und argumentieren, dass Medizin vor allem eine persönliche Betreuung der Patienten darstellt und nicht durch „Digitale Medizin“ ersetzt werden kann? 
Ich würde den Kolleginnen und Kollegen zunächst vollkommen Recht geben. Digitale Medizin soll und wird die persönliche Betreuung durch die Einbindung von Innovationen und digitalen Technologien nicht ersetzen. Sie soll sie ergänzen und integrieren, denn genau darin liegt ihre größte Stärke. Digitale Medizin bietet uns als Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit Einsicht in behandlungsrelevante Informationen zu erhalten, sei es von anderen ärztlichen Kolleginnen und Kollegen oder dem häuslichen Umfeld und Alltag der Patientinnen und Patienten. Sie ermöglicht diesen, mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen und mündiger zu werden. Schlussendlich ist meine Hoffnung, dass uns die digital unterstützte Patientenversorgung die Möglichkeit und Zeit gibt, uns wieder auf die Dinge zu fokussieren, die Technologien nicht alleine können, nämlich unsere Patientinnen und Patienten mit Empathie, individualisiert und evidenzbasiert zu behandeln. 

Wo hakt es Ihrer Meinung nach bei der Digitalisierung im deutschen Gesundheitssystem?
Häufig lässt sich beobachten, dass bei der Gestaltung und Umsetzung von Digitalisierungsprojekten nicht alle relevanten Perspektiven eingenommen und damit bedeutsame Aspekte zu wenig berücksichtigt werden. Dies fällt dann nicht selten erst in der Phase der Implementierung auf, in der es mitunter sehr schwierig und kostenintensiv ist, die Ausrichtung zu ändern. Ein strukturierter und moderierter Austausch zu Beginn eines Vorhabens mit allen systemrelevanten Spielern kann die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns deutlich verringern.

Welche Erwartungen haben Sie an die Politik und an die neue Bundesregierung?
Meine Hoffnung ist, dass in der neuen Legislaturperiode das Thema Digitalisierung des Gesundheitswesens genauso prioritär vorangetrieben wird. Sicherlich kann man über manche Gesetze der letzten Jahre im Bereich der Digitalisierung streiten, aber sie haben eine Grundlage geschaffen, auf der man arbeiten, diskutieren und evaluieren kann. Dieser Diskurs ermöglicht Weiterentwicklung und Fortschritt und bringt das System insgesamt voran.

\\\ Den zweiten Teil des Interviews mit Dr. Filippo Martino lesen Sie hier. \\\



Dr. med. Filippo Martino ist Gründer und 1. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Digitale Medizin (DGDM). Als Arzt mit Erfahrung in der medizinischen Patientenversorgung, Forschung und Innovation liegt sein Schwerpunkt auf der Entwicklung und wissenschaftlichen Evaluation digitaler Anwendungen und Konzepte im Bereich der Digitalen Medizin.

Die Deutsche Gesellschaft für Digitale Medizin e.V. (DGDM) ist eine medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaft, die sich der Förderung von Wissenschaft, Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Digitalen Medizin und ihrer Entwicklung als zukunftsorientierte Ergänzung der medizinischen Tätigkeiten verschrieben hat. Die Gesellschaft verfolgt ihre Ziele insbesondere durch die Vereinigung der auf dem Gebiet der Digitalen Medizin tätigen Wissenschaftler:innen und Ärzt:innen sowie auch Studierenden der Medizin, Auszubildenden und Angehörigen nichtärztlicher Fachberufe im Gesundheitswesen, die ein praktisches oder wissenschaftliches Interesse an der Digitalen Medizin haben.

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