"Die geltende GOÄ bietet Möglichkeiten, die Honorare um bis zu 50 Prozent zu steigern"

Woran es bei der Novellierung der GOÄ hakt, ob Komplexleistungen den Abrechnungsaufwand verringern werden und welche Gründe für eine Faktorsteigerung sprechen können, erklärt Wieland Dietrich, Vorsitzender Freie Ärzteschaft e.V., im Interview mit AÄA.


Wieland Dietrich ist Vorsitzender der Freien Ärzteschaft e. V. und Facharzt für Dermatologie in Essen.
Die Freie Ärzteschaft e. V. (FÄ) ist ein Verband, der den Arztberuf als freien Beruf vertritt. Er wurde 2004 gegründet und zählt heute mehr als 2.000 Mitglieder: vorwiegend niedergelassene Haus- und Fachärzte sowie verschiedene Ärztenetze. Ziel der FÄ ist eine unabhängige Medizin, bei der Patient und Arzt im Mittelpunkt stehen und die ärztliche Schweigepflicht gewahrt bleibt. 

 

Herr Dietrich, die GOÄ wurde zuletzt vor 27 Jahren aktualisiert. Warum wird die Reform vom Bundesgesundheitsminister nicht vorangetrieben?
Da kann ich nur spekulieren. Klar ist jedenfalls, dass die Aufmerksamkeit von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach vor allem den Kliniken gilt. Dabei wirft sein Gesetzentwurf zur Klinikfinanzierung mehr Fragen auf, als Antworten zu geben. Wieso soll beispielsweise das Fallpauschalen-System erhalten bleiben und nur durch weitere Finanzierungsmöglichkeiten ergänzt werden? Oder warum können Investoren aus größtenteils privatisierten Kliniken weiterhin maximale Gewinne aus der stationären Versorgung ziehen?
Außerdem plant der Bundesgesundheitsminister einen Paradigmenwechsel bei der stationären Versorgung und will Patienten mit Asthma, Bluthochdruck, Krebs oder nach Nierentransplantationen in Zukunft zur Beratung in die Apotheke schicken. Apotheker und deren Angestellte „bearbeiten“ dann die Blutdruckeinstellung oder den Medikamentenplan, an dem auch Änderungen vorgenommen werden können. Das sieht eine Gesetzesänderung im Paragrafen 129 des fünften Sozialgesetzbuches vor, die noch aus der Spahn-Ära stammt und soll einen Teil der Aufgaben von Hausärzten, Pulmologen, Kardiologen, Nephrologen oder Onkologen in die Apotheken verlagern. Der Sinn dieser Maßnahme ist auch deshalb zweifelhaft, weil dort die Kompetenz für diese neuen Beratungsleistungen fehlt. 
Gleichzeitig stagnieren die ärztlichen Honorare, während die niedergelassenen Ärzte mit steigenden Kosten für Personal und Betriebskosten zu kämpfen haben. Dabei stellen die ambulanten selbständigen Praxen die Basis der immer noch funktionierenden Medizin in Deutschland dar. Diese Basis wird durch Unterfinanzierung, Bürokratisierung und immer weiter fortschreitende Belastung aber weiter geschwächt. Auch deshalb gibt es heute schon 5000 unbesetzte Arztpraxen in Deutschland.

Bereits im Herbst des vergangenen Jahres hat die Freie Ärzteschaft von einem Debakel der GOÄ-Reform gesprochen. Was läuft aktuell aus Ihrer Sicht falsch?
Weder Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach noch die Grünen oder die Beihilfen wollen eine Reform. Die Privaten Krankenversicherungen (PKV) profitieren von der Inflation, wenn die Ärzte ihr Abrechnungsverhalten nicht konsequent anpassen. Die Ärzte brauchen einen Inflationsausgleich, der PKV-Verband will Kosten sparen. Daher verzögert der PKV-Verband bisher eine Einigung zur GOÄneu.
Der Deutsche Ärztetag 2022 hatte die Bundesärztekammer (BÄK) bereits aufgefordert, die Ärzteschaft über die rechtskonforme Möglichkeit der Anwendung besonderer Honorarvereinbarungen mit höheren Steigerungsfaktoren als dem 2,3-fachen Regelsteigerungssatz nachhaltig zu informieren, sollte der Verordnungsgeber die GOÄneu nicht bis zum 31.Dezember 2022 in Kraft setzen. So ist es dann ja auch gekommen. Und die BÄK hat nichts getan, obwohl die Gebührenordnung ein Kernelement jedes freien Berufes ist.

Bei der Honorierung ihrer privatärztlich erbrachten Leistungen sollen Ärzte künftig von den rechtskonformen Möglichkeiten Gebrauch machen, im Einzelfall höhere Steigerungsfaktoren anzuwenden. Diese Empfehlung insbesondere für zuwendungsintensive Leistungen haben Ende März die Bundesärztekammer, Ärzteverbände und Fachgesellschaften ausgesprochen. Was halten Sie davon? 
Viel, nicht nur, weil diese Empfehlung ursprünglich auf einen Vorschlag der Freien Ärzteschaft zurückgeht. Höhere Faktoren und besondere Honorarvereinbarungen sind in der geltenden GOÄ ausdrücklich vorgesehen. 1996 wurde das Honorarvolumen um vier Prozent erhöht, seitdem hat sich nichts getan, die Honorare sind daher aufgrund der Inflation nur noch halb so viel wert wie vor 25 Jahren. Außerdem ist es besonders inakzeptabel, die hohen Inflationsverluste der Jahre 2022 und 2023 zu zementieren. 
Dabei gibt es für eine patientenindividuelle Steigerung nach der GOÄ oft gute Gründe: Weil beispielsweise die Diagnostik und Therapien vielfältiger und komplexer geworden sind oder wegen des höheren Dokumentations- oder Aufklärungsbedarfs durch das Patientenrechtegesetz. Oder weil eine Zweitmeinung eingeholt werden muss, wegen Ko- und Multimorbiditäten. Es gibt zahlreiche GOÄ-konforme patientenbezogene Begründungen für Steigerungen über 2,3 hinaus.
Die Krankenhäuser fordern ganz selbstverständlich mehr Geld für steigende Personal-, Energie-, IT- und weitere Kosten. In derselben Lage ist die ambulante Medizin mit den Arztpraxen. Die geltende GOÄ sollte deshalb genutzt werden, um höhere Steigerungssätze in besonderen Fällen umzusetzen.

Wie beurteilen Sie die den Entwurf der neuen GOÄ, den die Bundesärztekammer dem Bundesgesundheitsminister übermittelt hat?
Die Berufsfachverbände wurden lediglich über die neuen Punktwerte und nicht über den Paragrafenteil und über die Änderung der Bundesärzteordnung informiert. Unser Hauptkritikpunkt ist die „Gemeinsame Kommission“ (GeKo), die eine Rolle ähnlich dem G-BA sowie dem Bewertungsausschuss in der GKV übernehmen soll. Die Ärzteschaft verliert dadurch die Hoheit über die GOÄ, die sie jetzt noch in der Gebührenordnungskommission hat. Außerdem bei der Definition von Analogbewertungen, die jeder Arzt autonom derzeit treffen kann, und bei den Steigerungsfaktoren. Weitere Negativpunkte der GOÄneu sind wirtschaftliche Aufklärungspflichten, verankert auch in der Gebührenordnung, und maschinenlesbare Rechnungen mit ICDs und OPS-Codes. Privatärztliche Verrechnungsstellen sollen dann auf Verlangen die Leistungsdokumentation vorlegen. Damit kann man die Abläufe für Ärzte und PVS so kompliziert und teuer machen, dass die Abrechnung an sich massiv behindert wird.

Die neue GOÄ soll Komplexleistungen definieren, in denen einzelne Leistungen zusammengefasst werden. Wird das in Zukunft die Bürokratie reduzieren?
Wir haben mit dem einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) eher problematische Erfahrungen gemacht. Natürlich lassen sich mehrere Leistungen zu einer Gesamtleistung zusammenfassen. Das wären bei einer Operation beispielsweise Anästhesie, Eingriff, Wundversorgung und Nachkontrolle. Der Arzt ist verpflichtet, alle Leistungen zu erbringen, sonst darf er den Komplex nicht abrechnen. Manche Patienten verzichten aber auf die Narkose, sondern wünschen etwa Lokalanästhesie, oder sie verzichten auf Nachbehandlungen. Zudem lassen sich Honorare für die individualisierte Medizin über Komplexleistungen nicht gut abbilden. Viele der jetzt eigenständig nebeneinander berechenbaren Leistungen sollen in Komplexen versenkt oder nur noch als Zuschläge berechenbar sein. Das wäre eine Bevormundung von Ärzten durch die „GeKo“, ähnlich wie von G-BA und Bewertungsausschuss im vertragsärztlichen Bereich.

Geräteintensive Leistungen sollen in der neuen GOÄ abgewertet, die sprechende Medizin soll aufgewertet werden. Ist das nachvollziehbar?
Es fehlt an Transparenz. Wir können nicht beurteilen, inwiefern persönliche Beratung und Untersuchung durch den Arzt tatsächlich deutlich aufgewertet werden. Bisher haben wir nicht den Eindruck, dass es eine deutliche Erhöhung geben wird. Das Arzthonorar ist mit ca. 80 Euro pro Stunde bei galoppierenden Kosten ohnehin zu niedrig. Und nicht die gesamte Radiologie, doch CT und MRT sollen wohl erheblich, möglicherweise um 30 Prozent abgewertet werden. Als Grund werden vor allem die gegenüber 1996 oft erheblich gesunkenen Gerätekosten angeführt. 

Wie ließen sich Kostensteigerungen jetzt und in Zukunft ausgleichen?
Die Punktwerte in der jetzigen GOÄ sollten angepasst und erhöht werden. Das war bisher in den ärztlichen Gremien nicht durchsetzbar. Es ist aber möglich, wie die Unfallversicherungen zeigen. Sie haben in einem Vertrag mit der KBV den Punktwert in der UV-GOÄ um 18 Prozent angehoben, über vier Jahre verteilt. Wir fordern allein für dieses Jahr einen Inflationsausgleich von neun Prozent. Aus unserer Sicht würde es ausreichen, erstens den Punktwert anzuheben. Und zweitens wäre es wichtig, die vorhandenen Analogleistungen ordentlich über Legendierungen zu beschreiben und zu bewerten. Damit wäre über Punktwertsteigerung und Ergänzungen von Leistungen die Novellierung der GOÄ erledigt. 
Bereits die geltende GOÄ bietet Möglichkeiten, die Honorare um bis zu 50 Prozent zu steigern. Für die Behandlung von Patientinnen und Patienten ist bei privatärztlichen Abrechnungen seit Jahren ein Steigerungsfaktor von 2,3 üblich. Dabei lassen sich über höhere Faktoren und Abdingungen bessere Honorare ganz legitim erreichen, die am Patienten erbrachte Leistung kann bis zum 3,5-fachen des Gebührensatzes ansteigen, je nach Schwierigkeit und Zeitaufwand. Gerade in Anbetracht wegbrechender Leistungen und fehlender Praxisnachfolge sollte die geltende GOÄ deshalb dafür genutzt werden, höhere Steigerungssätze in besonderen Fällen umzusetzen.

Das Interview führte Dirk Mewis.


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